Naturnaher Wald nach dem Lübecker Modell

Vortrag von Forstexperte Knut Sturm

Knut Sturm, Förster und Bereichsleiter des Lübecker Stadtwalds, hielt am 22.5.2022 einen äußerst informativen Vortrag über das Konzept des von ihm bewirtschafteten Waldes. Der NABU Seeheim-Jugenheim und das Netzwerk Bergsträßer Waldhatten zu dieser Veranstaltung in die Bürgerhalle Bickenbach eingeladen.

In rund 70 Minuten erläuterte Knut Sturm den etwa 80 interessierten Gästen das Lübecker Konzept, das sein Vorgänger Lutz Fähser vor knapp 30 Jahren entwickelt und zur Anwendung gebracht hat. Die 30-jährige Geschichte ist fundiert mit Daten dokumentiert, die jeden Vortragsrahmen sprengen würden. Knut Sturm gelang es aber, einen Überblick darüber zu vermitteln, der eine eindrückliche Erfolgsgeschichte erzählte.

Zu Beginn des Vortrags ging der Referent zur Einstimmung auf eine Frage ein, die wir ihm vorab gestellt hatten: Wie kann man in einer Gemeinde ein neues Forstwirtschaftsmodell zur Anwendung bringen? Unerlässlich sei dafür, dass Förster und die Mehrheit der BürgerInnen überzeugt davon und gewillt dazu sind – erst dann komme die Politik ins Spiel. Wir sehen das als Ansporn, weiterhin Informations- und Überzeugungsarbeit zu leisten, etwa in Form von fachkundigen Vorträgen wie diesem.

Der Vortrag kann auf unserem Youtube-Kanal unter diesem Link abgerufen werden https://youtu.be/piw3OSBok9w. Die anschließende Diskussion ist hier zu finden: https://youtu.be/y-Wm_eDhMvc

Die wichtigsten Punkte des Vortrags kurz zusammengefasst

Das Lübecker Waldkonzept basiert auf drei Prinzipien:

  • Orientierung an Naturwäldern (Referenzflächen), die basierend auf wissenschaftlichen Studien charakterisiert und erfasst werden
  • Förderung der Naturnähe von Waldbeständen und deren Rahmenbedingungen
  • Weitestmögliche Schonung und nachhaltige Nutzung der Ressource Wald bei größtmöglicher Rücksicht auf alle Waldfunktionen

Diese Grundsätze übertragen sich in sehr konkrete Praktiken und Richtwerte:

  • Rückegassen: Es sollten Abstände zwischen Rückegassen von durchschnittlich 80 Metern angestrebt werden; in Lübeck ist der Durchschnitt derzeit bei 60 Metern. So wird die Bodenverdichtung mit all ihren fatalen Folgen für den Wald auf ein Minimum reduziert. (Zum Vergleich: In den von HessenForst bewirtschafteten Wäldern in unserer Region werden für die für Forstfahrzeuge geschaffenen Gassen Abstände zwischen 20 und 40 Metern angestrebt.)
  • Waldinnenklima: Buchenbestände sind aufgelichtet sehr viel empfindlicher gegen Trockenheit. Geschlossene Kronendächer tragen zu einem feucht-kühlen Waldinnenklima bei, wodurch der Wald Hitze und Trockenphasen besser verkraften kann. Schirmschläge und Durchforstung stören diese Widerstandskräfte gegen den Klimawandel auf lange Zeit.
  • Fressfeinde: Vom Borkenkäfer befallene Fichten enthalten oft noch die Larven ihrer Fressfeinde; sie sollten deswegen als stehendes Totholz im Wald verbleiben – durch Fällen und Heraustransportieren der Fichten vernichtet man hingegen die Fressfeinde des Borkenkäfers.
  • Harvestereinsätze widersprechen den Grundsätzen des Lübecker Modells. Rückearbeiten werden u.a. mit dem Pferd vorgenommen.
  • Eigene Angestellte: Es werden keine Subunternehmer beauftragt. Stattdessen arbeiten ausschließlich eigene Angestellte des Forstbetriebs im Wald, die ihn kennen und eine persönliche Bindung zu ihm haben. [Hier gab es spontanen Applaus vom Publikum]
  • Durchforstung: Dünne Buchen wachsen in dichten Beständen weniger schnell als in lichten Beständen – je dicker die Buchen jedoch werden, desto geringer ist dieser Zusammenhang. Ab einem Durchmesser in Brusthöhe von 30cm macht Durchforstung in Buchenbeständen keinen Sinn mehr, denn wissenschaftliche Studien zeigen, dass die Buchen dadurch nicht besser wachsen.
  • Das Ökosystem Wald muss in seiner Gesamtheit betrachtet werden und wissenschaftliche Forschungserkenntnisse sollten in die Art der Bewirtschaftung mit einfließen.

Weitere Prinzipien des Lübecker Modells, oft in Abgrenzung zur konventionellen Forstwirtschaft:

  • Starkholzentwicklung, also dicke alte Bäume in naturnahen Dauerwäldern – anstatt junger, schnell wachsender Bäume
  • Ziel ist ein möglichst hoher Holzvorrat – anstatt Zuwächse einzugrenzen, um Wälder einfacher bewirtschaften zu können
  • Weniger Durchforstung, denn „Holz wächst nur an Holz“ – anstatt viel Nutzung mit vermeintlich hohem Zuwachs
  • Der Wald bestimmt die vermarktbaren Produkte – anstatt vom Bedarf des Markts her zu denken und zu wirtschaften

All das rechnet sich auch betriebswirtschaftlich – das belegte Knut Sturm eindrücklich anhand von Betriebsergebnissen der Jahre seit 2010: Der Stadtwald Lübeck hat in diesem Zeitraum durchgehend Gewinne im sechsstelligen Bereich erwirtschaftet.

Knut Sturm hat seine Erkenntnisse auch auf den Bickenbacher Wald bezogen. Er konnte im Vorfeld des Vortrags zusammen mit dem ehemaligen Förster des Stadtwaldes Göttingen, Martin Levin, einen kleinen Spaziergang im Bickenbacher Wald machen und teilte dem Publikum seine Beobachtungen mit: “Das ist hier für mich kein Wald mehr. Der ist ja nicht mehr mal kühl, wenn man hier reingeht. Wenn wir in Lübeck in unsere Wälder reinlaufen, dann läuft man gegen eine Mauer, und zwar gegen eine klimatische Mauer. Das ist hier weg. Wenn man aber in diese kleinen Nester [im Bickenbacher Wald] reingeht, wo die Buche vital war und die Hainbuche und Linde steht, war es kalt, und zwar selbst in diesen “Mikrokleinstdingern”. Was passiert da? Da läuft hier etwas aus dem Ruder. (…) Wenn ich so einen Wald vor der Haustüre hätte, dann würde ich erstmal sagen: 30 Jahre raus.” [spontaner Applaus]

Dem können wir uns nur anschließen und hoffen auf weiteren regen Austausch mit BürgerInnen, Förstern und EntscheidungsträgerInnen an der Bergstraße, für den dieser Vortrag hervorragende Anregungen geliefert hat. Herzlichen Dank noch einmal an Knut Sturm und hoffentlich bis bald!

https://nabu-seeheim.de/naturnaher-wald-nach-dem-luebecker-modell/

Alles wieder gut im Bickenbacher Wald?

Stellungnahme des „NABU Seeheim“ zum Artikel „Fällarbeiten zur Verjüngung – Beim Ortstermin im Bickenbacher Wald werden zahlreiche Vorwürfe des NABU entkräftet“ (Darmstädter Echo am 7.5.2022)

Wahr ist: der forstliche Eingriff im Bickenbacher Wald war naturschutzfachlich wie finanziell ein Desaster, der Gemeinde Bickenbach ist erheblicher Schaden entstanden.

Die selbst für forstwirtschaftliche Laien gut sichtbare Verwüstung im Bickenbacher Wald ist eine Tatsache, die die naturschutzfachlichen Sorgen des NABU wohl begründet und die im PEFC-Bericht bestätigt wird: Der Hauptkritikpunkt des NABU, nämlich die übermäßige Bodenverdichtung, wurde auch durch PEFC als Abweichung kritisiert.

Folgen sind eine massive Verdichtung auf dieser Fläche, die damit verbundene Freilegung des Bodens und Vernichtung des natürlichen Nachwuchses an jungen Bäumen. Die natürliche Waldentwicklung ist hier mindestens um ein Jahrzehnt zurückgeworfen worden, die Bodenverdichtung ist immens und wird bleibend Ertragseinbußen zur Folge haben.

Es gab es eine viel zu hohe Holzentnahme, die sich nicht mit den festgelegten Zielen der Forsteinrichtung Bickenbachs deckt. Letztlich ist auch dies eine Vertragsverletzung des Forstanbieters. Der ohnehin schon stark lückige Bestand hätte keinerlei Auflichtung zur Einleitung der Naturverjüngung gebraucht. Sie fördert lediglich die Vertrocknung und das Auftreten von Neophyten, die in diesen Waldgebieten schon zahlreich vorhanden sind.

Es bleibt zudem rätselhaft, weshalb im Artikel von acht Kritikpunkten gesprochen wird. Der NABU hatte lediglich 4 PEFC-relevante Punkte kritisiert.

Nun könnte man natürlich sagen: Der Schaden ist eingetreten und kann nicht mehr behoben werden.

Was den NABU aber mit Sorge erfüllt, ist nun eher die Tatsache, dass es scheinbar noch viel zu wenig Problembewusstsein bei der Gemeinde Bickenbach und den GemeindevertreterInnen zu geben scheint. Denn deren Pflicht wäre es ja, wenigstens künftige naturschutzfachliche und finanzielle Schäden abzuwenden.

Dazu wäre zunächst die Erkenntnis notwendig, dass man es hier weniger mit Auswirkungen der Klimakrise oder dem Fehlverhalten eines einzelnen Holzwerbers zu tun hat.

Vielmehr erleben wir hier – wie an vielen anderen Stellen im Wald, wo HessenForst als Anbieter forstlicher Leistungen auftritt – generelle Auswirkungen einer forstlichen Praxis, die inzwischen die Existenz der Wälder selbst aufs Spiel setzt.

Es wäre an dieser Stelle geradezu die Pflicht der TrägerInnen gemeindlicher Verantwortung, sich einen Überblick über forstliche Alternativangebote zu verschaffen, sich von unabhängigen ForstwissenschaftlerInnen beraten zu lassen.

Die gute Nachricht: Am 22.5.2022 findet um 16 Uhr im Bürgerhaus Bickenbach ein Vortrag zum Thema statt: „Naturnaher Wald nach dem Lübecker Modell“mit dem international anerkannten Forstexperten Knut Sturm. Wir laden alle herzlich dazu ein, die sich für den Wald verantwortlich fühlen.

Der im Echo-Bericht zitierte Artikel des NABU zu den Details des  PEFC-Audits ist – entgegen den Angaben im Echo-Artikel – weiter im Netz verfügbar unter https://nabu-seeheim.de/anspruch-und-wirklichkeit-waldarbeiten-bei-bickenbach-sind-nicht-mit-richtlinien-des-pefc-standards-vereinbar/.

Zu den Punkten, die PEFC nicht als Abweichung gewertet hat:

  • Habitatbaumauszeichnung: Dass es in Gebieten, in dem es viele sterbende Bäume gibt, nicht möglich war, einen einzigen Biotopbaum für Vögel und andere Tiere auszuzeichen bzw. Bäume zu kennzeichnen, die in naher Zukunft als Habitatbäume in Betracht kommen, ist für uns nicht nachvollziehbar. Die Bewertung durch PEFC erschließt sich uns nicht.
  • Die zahlreichen Fäll- und Rückeschäden vor allem im Unter- und Zwischenstand wurden unserer Ansicht nach bei der Begehung nicht ausreichend berücksichtigt.

https://nabu-seeheim.de/alles-wieder-gut-im-bickenbacher-wald/